6.11.2018

Gutachten der HSG zu den Lärmgebührentarifen des Flughafens Zürich: Lärmgebühren nach 23 Uhr kaum lenkungswirksam

Aktuell starten am Flughafen Zürich 78 Prozent aller Langstreckenflüge und mehr als 30 Prozent der Kurzstreckenflüge in der Abendwelle erst nach 23 Uhr, also verspätet. Dies geht aus dem Gutachten hervor, welches das Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) bei der Hochschule St.Gallen in Auftrag gegeben hat. Gegenstand des Gutachtens ist das beantragte Lärmgebührenmodell der Flughafen Zürich AG. Dieses soll unter anderem dazu beitragen, dass weniger Flüge während der Nachtsperrzeit stattfinden. Ob die Lärmgebühren lenkungswirksam sind, beantwortet das Gutachten nur vage. Trotzdem liefert es einige bemerkenswerte Erkenntnisse, welche die Kritikpunkte der Behördenorganisation Region Ost stützen.

Das von der Flughafen Zürich AG beantragte neue Lärmgebührenmodell erfüllt die Bedingungen des Bundesverwaltungsgerichts nach Ansicht des Bundesamts für Zivilluftfahrt (BAZL) nicht. Es hat deshalb bei der Hochschule St.Gallen (HSG) ein Gutachten in Auftrag gegeben, das offene Fragen bezüglich Hubsystem und der Höhe von lenkungswirksamen Gebühren beantworten soll. Auch die Behördenorganisation Region Ost verlangt eine Überarbeitung des Lärmgebührenmodells. Dieses soll wirksame finanzielle Anreize bieten, damit leisere Flugzeuge eingesetzt werden und möglichst keine Flüge während der Nacht­sperrzeit stattfinden.

Der Gutachter, Dr. A. Wittmer von der HSG, kann die Fragen des BAZL nicht abschliessend beantworten. Er nennt keine konkreten Lärmgebührentarife, die eine Lenkungswirkung sicherstellen würden, weil es keine Modelle gebe, um diese komplexe Situation abzubilden. Trotzdem kommt er zum Schluss, dass der neue Lärmgebührenvorschlag grundsätzlich geeignet sei, «das noch unzureichende Lenkungspotenzial insbesondere in Bezug auf die Verspätungs­situation zu verbessern, aber gleichzeitig den Hubbetrieb zu schützen». Der Gutachter sieht aber auch Optimierungspotenzial und untermauert damit die Kritik des BAZL und zahlreicher Fluglärmorganisationen.

Hauptziel der Region Ost: Weniger Verspätungen nach 23 Uhr
Das Gutachten zeigt auf, dass Verspätungen nach 23 Uhr eher die Regel als die Ausnahme sind. Höhere Gebühren und der Verzicht auf eine Entlastung von hubrelevanten Flügen sind gemäss Gutachter deshalb sinnvoll. Auch der Flughafen Zürich hat dies erkannt und will zumindest allen Flügen zwischen 23 Uhr und 6 Uhr morgens höhere Lärmgebühren zumuten – auch den hubrelevanten.

Wie hoch aber müssen die Gebühren sein, damit die Fluggesellschaften Verspätungen vermeiden? Diese Frage beantwortet der Gutachter nicht. Er schreibt jedoch: «Um adäquate Massnahmen zur Verspätungsvermeidung auszulösen, sollte eine taktische Verspätungsgebühr einen Grossteil der Gewinnmarge abschöpfen; für sehr persistente Fälle darf sie letztere auch moderat übersteigen.» Vergleicht man die Gewinnmargen mit den geplanten Verspätungs­gebühren, sieht man schnell, dass diese bei lauten Flugzeugen viel zu tief angesetzt und des­halb nicht lenkungswirksam sein können. Die Region Ost hat aufgrund der Angaben im Gut­achten ein kleines Rechenbeispiel gemacht.

Interessantes Rechenbeispiel zur Beurteilung der Lenkungswirksamkeit

Eine Boing 777 (Lärmklasse 2) müsste neu nach 23 Uhr einen Zuschlag von 3000 Franken bei einer Gewinnmarge von 10‘000 Franken bezahlen. Wenn die Empfehlung des Gutachters grei­fen soll, müsste die Gebühr allerdings über 5000 Franken liegen, damit sie einen Grossteil der Marge abschöpft. Schaut man sich die Kosten an, wenn ein Flug annuliert werden muss, also am Flughafen Zürich stehen bleibt, statt verspätet nach 23 Uhr abzufliegen, sieht man schnell, dass eine Gebühr von 3000 Franken kaum ins Gewicht fällt. Die totalen Annulationskosten betragen gemäss Gutachten 140‘000 Franken. Das Gutachten hätte einen solch konkreten Vergleich anstellen müssen, was aber nicht der Fall ist.

Höhere Gebühren am Morgen und in den frühen Abendstunden sinnvoll
Die Gebühren am Morgen zwischen 6 bis 7 Uhr für nicht hubrelevante Flüge bezeichnet Dr. A. Wittwer als eher gering. Der Zugewinn an Lenkungswirkung müsse sich daher noch zeigen. Dass die geplanten Tarife kaum lenkungswirksam sind, zeigt die jüngst kommunizierte Absicht des Flughafens Zürich, am frühen Morgen zwischen 6 und 7 Uhr mehr Slots zu vergeben als bisher. Offenbar besteht eine Nachfrage trotz zukünftig höherer Lärmgebühren. Damit in dieser lärmempfindlichen Zeit weniger Flüge stattfinden, müssten die Lärmgebühren erhöht werden.

Auch in den frühen Abendstunden müssten die Gebühren höher sein. Rund ein Drittel der abendlichen Zubringerflüge sei verspätet, was der Gutachter der knappen Ressourcen­allokation zuschreibt – das heisst, die Fluggesellschaften setzen zu wenig Personal und Material ein. Die abendliche Verspätungssituation sei demzufolge rentabler als der Einsatz zusätzlicher Ressourcen.

Wie ist eine hubrelevante Flugbewegung definiert?
Im Lärmgebührenmodell hat die Flughafen Zürich AG eine Entlastung hubrelevanter Flüge eingebaut, um die Drehkreuzfunktion nicht zu gefährden. Dr. Wittmer bemängelt, dass ein wesentliches Kriterium in der Definition von hubrelevanten Flügen fehle, nämlich der Umstei­geranteil. Er schlägt 10 Prozent vor, womit wohl die Mehrheit der Flüge hubrelevant wäre. Auch das Gutachten liefert somit keine nachvollziehbare Definition hubrelevanter Flugbewegungen.

Bundesverwaltungsgericht mit klarem Auftrag
Die Region Ost wünscht eine Nachbearbeitung der Studie, insbesondere eine Beantwortung der offenen Frage, wie hoch die Lärmgebühren nach 23 Uhr effektive sein müssten, damit diese lenkungswirksam sind, ohne einen Hubbetrieb zu verhindern. Zudem müsste auch klar festgelegt werden, wie Hubrelevanz definiert ist. Die Region Ost erwartet, dass bald eine Lösung für ein lenkungswirksames Lärmgebührenmodell unterbreitet wird, wie dies das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 30. Oktober 2013 verlangt.

Aus dem Gutachten zieht die Region Ost nachstehende Schlussfolgerungen:

  1. Die Gebühren für Flüge vor 7.00 Uhr sind aufgrund des Gutachtens zu erhöhen, insbesondere für die Lärmklassen 4 und 5, da das Modell der Flughafen Zürich AG diese nicht lenkungswirksam gestaltet.
  2. Die Gebühren für Flüge nach 23.00 Uhr müssten für alle Lärmklassen derart festgelegt sein, dass sie «… einen Grossteil der Gewinnmarge abschöpfen; für sehr persistente Fälle darf sie letztere auch moderat übersteigen.»
  3. Die Gebühren in den Abendstunden müssten so gestaltet sein, dass es sich für die Fluggesellschaften lohnt, mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen und selber verursachte Verspätungen zu vermeiden. Auch für den Hubcarrier sind höhere Abfluggebühren für die Abendwelle notwendig, um eine Verminderung der Verspätungen durch eine bessere Ressourcenallokation zu motivieren.
  4. Die Gebühren nicht hubrelevanter Flüge in den dicht besetzten Randstunden sind zu erhöhen, um einen Anreiz zu schaffen, diese in weniger genutzte Zeiten zu verschieben, wodurch weniger Verspätungen entstehen würden. Die Gebühren sollen jedoch nicht so hoch sein, dass sie einer Marktschranke gleichkommen.



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